
Alpinismus im (Klima)wandel
Wie wir den Bergsport trotz Klimaerwärmung sicher gestalten können – Fokus Sommersaison
Für den Klimaschutz sind die Alpen das europäische Frühwarnsystem und ein Indikator für den globalen Rest. Nirgendwo ist der Klimawandel so stark messbar wie im alpinen Raum. Zeit also, um den Umgang mit Risiken am Berg hinsichtlich dieser Veränderungen zu überprüfen. Die Auswirkungen des Klimawandels sind in der Schweiz bereits spürbar, siehe Abbildung 1.
Bekannt ist der kontinuierliche Anstieg der mittleren Jahresdurchschnittstemperatur. Weniger medienwirksam, aber ebenso folgenreich für den Alpenraum ist die im Mittel abnehmende Zahl an Frosttagen, d.h. von Tagen mit einem Temperaturminimum < 0 °C, oder die Zunahme der Tage mit einer 0°-Grenze über Gipfelniveau

Abbildung 1 Wichtige bereits beobachtete Veränderungen basierend auf Beobachtungsdaten © BAFU/MeteoSchweiz (2020)
Massenbewegungen in Permafrost- und Gletschergebieten
Permafrost bezeichnet einen Untergrund, dessen Temperatur für mindestens zwei Jahre ununterbrochen unter 0 °C bzw. dem lokalen Gefrierpunkt liegt. Er ist der Stoff, der Blöcke, Steine, Kies, Sand, Ton und Schluff mit Eis zusammenhält. In den Alpen gibt es flächenmässig mehr Permafrost als Gletscher. Das Auftauen von Permafrost führt zu Steinschlägen, Fels- und Bergstürzen unterschiedlichen Ausmasses. Die Gefahr solcher Massenbewegungen besteht grundsätzlich überall dort, wo die Nullgradgrenze für längere Zeit an oder über der Permafrostgrenze liegt. Die Gefahr ist nicht neu, aber mit der zunehmenden Geschwindigkeit der Erwärmung und der daraus resultierenden Zunahme von Hitzeperioden nimmt auch das Ausmass des betroffenen Geländes und die Häufigkeit solcher Ereignisse zu.
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Langanhaltende Hitzeperioden und Dürren treten häufig zusammen auf und verstärken die Gletscherschmelze. Es können in kurzer Zeit sehr große Mengen an Schmelzwasser entstehen. Das abfliessende Wasser destabilisiert ein ohnehin instabiles vorgelagertes Permafrostgelände zusätzlich. Bis zum Ende des Jahrhunderts werden je nach Szenario ein Grossteil der Alpengletscher mehr oder weniger verschwunden sein. Wo Gletscher abschmelzen, bleibt instabiles Moränengelände zurück. Geröll ist häufig besonders instabil an Stellen, an denen sich ein Gletscher gerade erst zurückgezogen hat. Geröll stabilisiert sich erst durch viele Begehungen und aufkeimende Vegetation. Ob ein spezieller Hang oder eine Wand gefährlich ist, ist schwer zu erkennen. Das Schadensausmass ist maximal im Einzugsbereich, die Eintretenswahrscheinlichkeit relativ gering, wenn auch in der Tendenz zunehmend. In Gebieten mit Gletscherrückzug und in Bereichen mit Permafrost ist tendenziell von einer Zunahme der Sturzaktivität, z.B. Steinschlag, Felssturz etc. auszugehen. In den anderen Gebieten ist langfristig eher mit einer Abnahme der Sturzaktivität zu rechnen.
Die klimatisch bedingten Veränderungen der Vegetationszonen (siehe nächster Abschnitt) können langfristig eine Destabilisierung der Permafrostgebiete positiv beeinflussen, sind aber keine zeitnahe Lösung für den Bergsport bzw. die menschliche Nutzung des Alpenraums.
Vertikale Verschiebung der Vegetationszonen und ihre Auswirkungen
Welche Risiken und Chancen sich aus der Klimaerwärmung ergeben, zeigt Abbildung 2. Die Vegetationszonen breiten sich bergauf aus. Die spezifischen alpinen Lebensräume werden sich wandeln. Wo es vorher karg war, wird sich der Pflanzenwuchs verdichten und die dortige Flora bedrohen oder verdrängen.

Abbildung 2 Risiken und Chancen des Klimawandels in den Alpenländern © BAFU und Köllner et al. (2017), neu angeordnet
Mehr Grün in höheren Lagen treibt seinerseits den Klimawandel weiter voran: Es wird mehr Sonnenlicht absorbiert statt reflektiert (weil Vegetation meist dunkler ist als Gestein), die Temperaturen steigen dadurch weiter an. Wo plötzlich Wälder stehen, bleibt weniger reflektierender Schnee liegen.
Bei Massenbewegungen, wie z.B. Rutschungen oder Hangmuren, kommt es vor allem zu Veränderungen in den Bereichen der Vegetationsbedeckung und der Hydrogeologie. Die Niederschlagswahrscheinlichkeit und die Intensität der Schneeschmelze sind für spontane Rutschungen und Hangmuren in der Schweiz massgebend. Die Stärke und die Häufigkeit solcher Ereignisse werden sich verändern. Durch häufigere Schneeschmelzen können grossflächigere Hangmuren ebenfalls reaktiviert werden oder sich beschleunigen.
Bei Lawinen sind die zukünftigen Veränderungen vor allem in den Bereichen der Schneefallgrenze, Schneemenge und -deckenaufbau auszumachen. Bei moderater Klimaänderung gibt es kaum Auswirkungen auf die Lawinenaktivität. In tieferen Lagen wird die Lawinenhäufigkeit durch die Abnahme der Schneemenge und der höheren durchschnittlichen Schneefallgrenze eher abnehmen.
Vorbeugende Massnahmen zur Gefahrreduktion
Idealerweise erkennt man all diese Gefahren bereits bei der Tourenplanung und berücksichtigt sie bei der Auswahl einer passenden Tour für den geplanten Zeitraum. Hier kommen die Jahreszeiten ins Spiel. Touren, die man früher üblicherweise im Sommer gemacht hat, weisen zunehmend nur noch im Frühsommer, Frühjahr, Herbst oder sogar in schneearmen Wintern brauchbare Verhältnisse auf. Die Jahreszeiten sind insgesamt unberechenbarer geworden und folgen nicht mehr einem immergleichen Muster wie früher.
Das Wetter sollte nicht nur an den Tourentagen selbst beachtet werden. Auch die Witterung in den Tagen und Wochen zuvor sollte in die Betrachtungen für die Tourenplanung einfliessen. Es ist z.B. ein großer Unterschied, ob man am ersten oder zehnten heissen Tag in Folge unterwegs ist. Relevant für die Einschätzung der Verhältnisse sind u. a. Niederschlagsmenge, -art und -form, z.B. Schnee oder Wasser, sowie die Temperatur (Nullgradgrenze). Die Nullgradgrenze findet man zwar häufig in aktuellen Wetterberichten, meistens aber nicht im Wetterarchiv. Die Nullgradgrenze bestimmt, ob kombiniertes Gelände gefroren ist und damit relativ stabil, oder ob es sich in ein Gebiet mit instabilen Verhältnissen verwandelt.
Bei Tourismusverbänden und Hüttenwart:innen sollten Erkundigungen über die Bedingungen vor Ort eingeholt werden. Die Auswirkungen z.B. eines schneearmen Winters mit einer frühen Hitzeperiode sind aus der Ferne schwierig zu beurteilen. Die lokalen Fachpersonen teilen ihr Wissen sehr gerne mit uns. Zum Beispiel entsprechen Gletscherstände auf Karten selten der aktuellen Realität, auch andere Geländeformen verändern sich: Gletscherspalten und -brüche verschwinden oder entstehen, Moränen und Hangbereiche rutschen ab, Wege müssen angepasst werden, Gebirgsbäche werden grösser oder verschwinden zeitweise ganz. Ein Anruf bei den zuständigen Fachvereinen und Ansprechpartnern liefert wertvolle und vor allem aktuelle Informationen.
«Kurz und knapp» – Praxistipps zum Schluss
- Vermeidung und/oder Reduktion des Aufenthalts in Permafrostgebieten
- Verlagerung der Aktivitäten auf sehr kompakt wirkende Felswände
- Primäre Begehung von schneebedeckten Gletschern in den frühen Morgenstunden
- Keine Sérac-Zonen
- Trittschulung, Einsatz von Stöcken, langsame Gehgeschwindigkeit und passende Zeitplanung, leichtes Gepäck, hohe Konzentration, Helm
- Frühes Aufstehen reduziert u.a. Steinschlag durch andere Seilschaften
- Wachsame Betrachtung der Umgebung in regelmässigen Abständen, zur Vermeidung von spontanem Steinschlag etc.
- Vorausschauende Planung, um Hitze und Dehydration zu entgehen
«Fun fact»: Eine der häufigsten Ursachen für alpine Notlagen laut Bergunfallstatistik ist die Erschöpfung. Auch diese Gefahr nimmt durch Hitzeperioden zu.
Es gilt, die eigene Planung und das persönliche Risikomanagement dem Wandel anzupassen.
Alexandra Brandl
Quellen: