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Wildhorn
Bild Reto Waser

Wild, wilder, die «Wilden W‘s»

Haute-Route Berner Oberland vom 3. bis 5. März 2023.

Eine SAC-Tour beginnt für mich persönlich immer wieder spannend. Wer ist in der Gruppe? Wie werden wir uns arrangieren? Wer bringt welche Fähigkeiten mit? Diese, in der Regel recht zufällig zusammengewürfelten Gruppen, sind ein Gegenpol zum Alltag, wo wir uns bewusst oder unbewusst, oft in “Bubbles” mit Gleichgesinnten bewegen. Dabei ist die gemeinsame Tour, mit ihren konditionellen und technischen Herausforderungen und den schönen Erlebnissen, eine ideale Grundlage, um sich gegenseitig kennen und schätzen zu lernen. Eine SAC-Tour bringt Horizonterweiterung auf verschiedenen Ebenen. Das gilt ganz besonders für die «wilden W’s»: Die Gruppe harmoniert bald sehr gut, die Bergwelt und das Wetter präsentieren sich von der besten Seite und zusätzlich lädt eine überraschende Entdeckung zu einer horizonterweiternden Zeitreise ein.

Das ist geplant

Wir treffen uns am 3. März 2023 um 6:39 Uhr am Bahnhof Bern. Patrick, unser Tourenleiter, hat der Tour den Namen «Die wilden W’s» gegeben. Geplant ist die Tour von Les Diablerets (Sex Rouge) via Arpelistock und Geltenhütte über das Wildhorn zur Wildstrubelhütte und sodann über den Wildstrubel und je nach (Schnee-) Verhältnisse entweder nach Kandersteg, in die Lenk, Engstligenalp oder Gemmi.

Offen war, ob wir am zweiten Tag vom Wildhorn nach Les Rousses abfahren, uns mit dem Alpentaxi nach Crans Montana und mit der Bahn hoch zur Plaine Morte chauffieren lassen, von wo aus die Wildstrubelhütte einfach zu erreichen ist. Oder, ob wir aus eigener Kraft vom Wildhorn hinunter zum Chilchligretscher (Tobias kommentierte den Namen dieses Gletschers amüsiert: «Chill chli Gletscher den drucke ich gross aus und hänge ihn in meine Küche!») und von dort über das Schnidehore hinunter zum Plan des Rosses und via Alpage du Rawyl zur Wildstrubelhütte touren.

Los geht’s

Alles andere als wild gelangten wir für unsere dreitägige berneroberländer Haute-Route mit der Luftseilbahn zum Sex Rouge, wo überraschend eine eisige Bise auf uns wartete. Deshalb starten wir möglichst rasch und geniessen bei bestem Wetter schönsten Tiefschnee auf dem Glacier de Zanfleuron Richtung Col du Sanetsch. Die Bise bläst hier nicht mehr und es wird schnell wärmer.

Die Tour wird zum ersten Mal beim Schlussanstieg zum Arpelistock ihrem Namen gerecht. Mit den Skiern auf dem Rucksack und montierten Steigeisen treffen wir auf dem Gipfel ein. Anschliessend fahren wir durch das wilde Furggetäli ab zur Geltenhütte und lassen uns dort als einzige Gäste durch die Hüttenwartin Susanne verköstigen.

Die unerwartete Entdeckung in der Geltenhütte

Die Geltenhütte ist frisch renoviert, die Küche nigelnagelneu. Und! An den Wänden hängen Fotografien, die verblüffen. Die schwarz-weissen Bilder sind historische Fundstücke. Einige davon sind erste Vorläufer der heutigen Berg- und Actionfotografie. Auf die Bilder angesprochen, erzählt Susanne woher die Bilder kommen:

Der Fotograf Jacques Nägeli (19. Februar 1885 – 23. Mai 1971) eröffnete 1914 sein Fotogeschäft in Gstaad. Mit seiner Arbeit schuf er wunderbare Zeitdokumente – Die Menschen im Tal, gut betuchte Gäste aus aller Welt, das Bergsteigen mit Freunden und die Natur haben seine Arbeit geprägt. Ausserdem ist er als Fotograf weit gereist. Tunis, Palermo, Rom, Biarritz, Lourdes, London, Cork und später vom Mittelmeer zum Viktoriasee und an den indischen Ozean.

Das Wildhorn (oben) und Die Skifahrer von Jaques Nägeli

Er fotografierte nicht nur, sondern hat schon sehr früh mit einer 35 mm Kamera gefilmt.

Was mich an seiner Bergfotografie fasziniert: Er dokumentiert mit seinen Bildern oft nicht einfach die Landschaft oder das, was geschieht. Sondern, er inszeniert die Menschen in vielen seiner Bilder ganz bewusst, manchmal sogar sich selbst. Das ist in der frühen Bergfotografie meines Erachtens recht selten.

Aus eigener Kraft

Am zweiten Tag geht es «wilder» zu und her. Wir haben uns entschieden via Wildhorn und Schnidehore die Wildstrubelhütte aus eigener Kraft zu erreichen. 2100 Höhenmeter bei 21 Kilometern warten auf uns.

Schon bald sind wir im schattigen Aufstieg zum Cole du Brotsé mit Harscheisen unterwegs. An exponierten Stellen ist der Schnee komplett abgeblasen. Das ist für Harscheisen nicht ideal. Und prompt geht eines von Patrick zu Bruch. Erst auf dem Glacier du Wildhorn zeigt sich der Berg von seiner freundlichen Seite, was sich auch an der Anzahl Skitüreler und Gebirgsflugzeuge bemerkbar macht.

Nägeli hat damals das Wildhorn fotografiert. Er stellte seine Kamera für dieses Bild wahrscheinlich auf dem Wildhorn-Ostgrat ungefähr beim heutigen Punkt 3099 aufs Stativ. Wenn wir sein Bild mit dem vergleichen, was wir auf unserer Tour sehen, drängt sich erstmal die Frage auf: Wo sind all das Eis und der Schnee geblieben? Umso mehr, weil Nägeli das Bild im Sommer geschossen haben muss. Was ich aber erst beim zweiten, genaueren Hinsehen entdecke – Da liegt ein Bergsteiger im Vordergrund. Er präsentiert dabei wunderbar und selbstverständlich ganz by the way seinen Pickel. Wäre das Bild farbig, die Kleidung des Bergsteigers aus atmungsaktiver Kunstfaser und der Pickel halb so lang, er wäre ein Influencer oder ein Markenbotschafter.

Nach einer kurzen Gipfelrast geht es via Schnidehore mit einer wilden Abfahrt weiter Ostwärts über die Alpage du Rawyl. Mit den letzten Kräften erreichen wir müde, aber glücklich die sehr gut gefüllte Wildstrubelhütte. Für eine wilddurchzechte Nacht reichen unsere Kräfte nicht aus. Wir futtern so viele Teigwaren wie möglich, die uns der Hüttenwart Konrad mehrfach an unseren Tisch bringt. Patrick plant mit uns im Anschluss den nächsten Tag und vielleicht träumt der eine oder andere von stiebenden Abfahrten im leichten Pulverschnee.

Pulverschnee und wilde Abfahrten haben schon Nägeli fasziniert. Er heizt beispielsweise schon damals mit seiner 35mm Filmkamera ohne Wenn und Aber auf den Skiern seinen Freunden hinterher. Auf einem Foto lässt er Skifahrer in voller Fahrt genau da den Schnee aufstieben, wo dieser vor dem schattigen Hintergrund im Gegenlicht schön leuchtet. Nägeli muss den Standort bewusst gesucht und den Zeitpunkt für die Aufnahme sehr genau geplant haben.

Und noch eine schöne Überraschung

Am dritten Tag geht es wieder weniger wild zu und her. Via Wisshorelücke und über den Glacier de la Plaine Morte geht es auf den Wildstrubel Westgipfel und von dort über die Rote Totz Lücke und den Chindbettipass zur Engstligenalp. Dank geschickt gewählter Abfahrtsroute durch den Gletscherabbruch Richtung Lämmerenhütte geniessen wir völlig unerwartet eine Abfahrt in traumhaftem Tiefschnee.

Ergänzung:

Inzwischen liegt das Fotobuch mit dem Titel «Welt & Gstaad Photo, Jacques Nägeli» vor mir. Seine Nachfahren haben den Nachlass durchforstet und eine vielfältige Auswahl im Buch veröffentlicht. Die Bilder in der Geltenhütte hingen zuvor in einer Jahresausstellung des Museums der Landschaft, Saanen.

Mehr Infos: studionaegeli.com

Herzlichen Dank an Christian Högl für die Erlaubnis, die Bilder zu verwenden.

Tourenbericht: Reto Waser und Patrick Koch
Tourenleitung: Patrick Koch
Teilnehmende: David Hausammann, Andreas Brütsch, Simon Schudel, Tobias Rieder, Reto Waser

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